Dörentrup (red). Verjährt – zum Glück! In den 1950er-Jahren vergaßen die Lokführer schon mal den Schlüssel am Wochenende in den Feldbahnloks des Sand- und Thonwerkes. Die Dörentruper Kinder kontrollierten das regelmäßig. So gab es ab und zu einen geheimnisvollen Ortswechsel einer Feldbahnlok. Spaß daran hatten nur die Kinder. Die Mindeststrafe dafür waren zwei Ohrfeigen, aber „erwischen“ ließ sich selbstverständlich kein „Feldbahner in spe“.
Genau diese „persönlichen“ Geschichten wollten Jürgen Scheffler und Jochen Brunsiek als Organisatoren der Erzählwerkstatt „Industrialisierung im Begatal“ – ein Projekt des Kulturstellwerks Nordlippe in Kooperation mit der Volkshochschule Detmold-Lemgo – hören. Und jede Menge Erinnerungen an die „Lippische Thonwarenfabrik“ (LiTho) und die „Dörentruper Sand- und Thonwerke“ hatten die Teilnehmer der drei Treffen Anfang des Jahres im Bürgerhaus auch reichlich mitgebracht.
Beide Firmen prägten die Entwicklung Dörentrups in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Rohstoffgewinnung produzierte Löcher in der Landschaft. Der Abtransport der fertigen Produkte bewirkte die Trassenführung der Bahnstrecke von Lemgo nach Hameln. Die Arbeitsplätze (maximal 550) ließen manchen „Ziegler“ zu Hause schlafen. Firmengebäude, Feldbahn und die hohen Schornsteine waren ortsbildprägend. Gastarbeiter aus Italien, Portugal und Marokko lernten Lippe kennen und die Produktpalette von Dachpfannen bis zu Ziegelsteinen war auch in der Heimat sehr begehrt.
„Im Klinkerwerk kenne ich heute noch jedes Loch“, bekundete Walter Gerke durchaus überzeugend. Mit 14 Jahren hatte er als einer von elf Schlosserlehrlingen 1952 seine Ausbildung in den Sand- und Thonwerken begonnen: „Und richtig Schreiben und Lesen haben wir nebenbei auch noch gelernt, das war nach dem Krieg im Schulunterricht gerne zu kurz gekommen. Die Loks haben wir selbst gebaut, und an den Zügen und der Gleisstrecke gab es auch immer reichlich zu reparieren. Im Herbst haben wir unsere Zwetschgen aus dem Garten immer mitgenommen und auf den Öfen getrocknet. Das schmeckte Weihnachten so gut konserviert der ganzen Familie.“ „Da gab es keinen Bagger, der Sand wurde mit Handschaufeln in die Loren gefüllt“, berichtete Reinhard Brinkmann: „Für die Glasindustrie musste der Silbersand absolut rein sein, da war Manpower sehr gefragt.“
„Die drei großen Kessel wurden in Zwölfstunden-Schichten betrieben und beim notwendig gewordenen Reinigungsbedarf wurde es mächtig heiß für das Personal“, erinnerte sich Horst Heuer. Er war 50 Jahre Betriebsschlosser im Sand- und Thonwerk gewesen. Sein Sohn Andreas hatte 1992 einen Film über seien Arbeitsplatz gedreht. So erhielten die Erzählwerkstatt-Teilnehmer auch einen optischen Eindruck in die Arbeitswelt der Beschäftigten. Nicht nur mehrere Verwandte, auch sein Vater arbeitete im Sand- und Thonwerk. Dem brachte der fünfjährige Martin Grenner immer das warme Mittagessen an den Arbeitsplatz und blieb dann auch gerne noch mehrere Stunden dort als prima Kindergarten-Ersatz. Auch Annette Jüsten hatte das Gelände der LiTho als Abenteuer-Spielplatz in Besitz genommen. Sie wohnte in der Direktorenvilla im Bärenort. Gleichaltrige Spielgenossen gab es dort nicht. So musste sie eben allein die (Arbeits-)Welt der Erwachsenen erforschen.
„Schon 1900 gab es Elektro-Betrieb bei der Dörentruper Feldbahn“, wunderte sich Christoph Beyer über so manche Schwierigkeit beim Elektroeinsatz 2024 in verschiedenen Fahrzeugen: „Da die Schienen fest auf den Schwellen verschraubt waren, kam es zu keinen Unfällen, das System war sehr robust.“ Als besondere Zugabe erhielten die Erzählwerkstatt-Teilnehmer eine Werksführung durch das aktuelle Betriebsgelände. 2003 hat die Firma „Dörentrup Feuerfestprodukte“ den Betrieb mit einer neuen Produktpalette übernommen. Geschäftsführer Christian Bock zeigte seinen Gästen auch sein „Steckenpferd“ als Erinnerung an frühere Zeiten: das „Maschinen-Museum“ in einer der Hallen. Die Rohstoffe werden aus der ganzen Welt importiert und die Produkte zu 70 Prozent weltweit vermarktet. Damit ist das „Dorf der Tiere“ (Dörentrup) auch ein „Global Player“.
Übrigens: Das Sand- und Thonwerk hatte maximal bis zu 35 Loks in verschiedenen Größen. Da waren die Dörentruper Kinder nach der Suche einer Lok mit Schlüssel erfolgreich oder nicht. Auf jeden Fall immer sportlich gut trainiert.
Wer sich selbst ein Bild von der früheren Arbeitswelt in Dörentrup machen möchte, kann dies am 1. Mai auf dem Bahnhofsfest in Farmbeck machen. Dort werden die Erinnerungen in Text und Bild als Ausstellung zu sehen sein. Wer selbst noch alte Fotos des Werkes oder der Feldbahn hat, darf diese dann gerne mitbringen und die schon vorhandenen Erinnerungen damit nachhaltig vervollständigen. Kontakt über info@kulturstellwerk-nordlippe.de.