Kalletal (red). Seit Mitte April 2025 versorgt das kommunale Medizinische Versorgungszentrum (MVZ) Kalletal Patientinnen und Patienten in der ehemaligen Ziegelei im Roten Lith 3a. Im Gespräch mit dem Nordlippischen Anzeiger erläutert Geschäftsführerin Gabriele Dostal, welche Vorarbeiten nötig waren, welche Hürden sie und ihr Team meistern mussten, wie sich das MVZ heute präsentiert und wohin die Reise geht.
Frau Dostal, blicken wir zunächst zurück: Welche Vorarbeiten waren nötig, um das MVZ auf den Weg zu bringen?
Gabriele Dostal: Bereits 2021 starteten wir mit einer umfassenden Analyse des regionalen Versorgungsbedarfs. Der Kommunale Entwicklungsbeirat legte dabei klar offen, dass der ländliche Raum des Kalletals unter erheblichen medizinischen Versorgungslücken leidet.
Die damalige Praxislandschaft entsprach nicht den bundesweit erkennbaren Präferenzen vieler jüngerer Ärztinnen und Ärzte, die eine Anstellung einem eigenen Praxissitz vorziehen. Deshalb haben wir ein kommunales Trägermodell entworfen, das – trotz anfänglicher Widerstände der Opposition, aber mit Rückendeckung der Kreisaussicht und eines Bürgerbegehrens – umgesetzt wurde und von den Bundesministerien als soziale Innovation ausgezeichnet ist. Parallel dazu führten wir Verhandlungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) und dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen (MAGS), die letztlich 280.000 Euro für die moderne Praxisausstattung bewilligten. Ohne diese Förderung hätten wir die Digitalisierung sowie die Anschaffung modernster medizinischer Geräte nicht in dieser Geschwindigkeit realisieren können.
Welche Hürden mussten Sie bis zur Inbetriebnahme überwinden?
Dostal: Die größte Herausforderung war tatsächlich die Lieferkette. Einige medizinische Geräte kamen erst Wochen später an, sodass wir den ursprünglich geplanten Start am 7. April verschieben mussten und letztlich erst am 14. April öffnen konnten. Hinzu kamen die baulichen Anforderungen an ein historisches Industriegebäude: Brandschutz, Barrierefreiheit – inklusive Rampe – und 40 kostenfreie Stellplätze mussten in wenigen Monaten umgesetzt werden. Dass uns das trotz Lieferengpässen gelungen ist, verdanken wir einem engagierten lokalen Netzwerk aus Handwerk, Ehrenamt sowie Verwaltung und dem hohen Einsatz der Vermieterin.
Wo steht das MVZ heute – rund fünf Monate nach der Eröffnung?
Dostal: Wie jede Neugründung mussten wir zahlreiche Hürden im internen Ablauf bewältigen. Arbeitsprozesse und Zuständigkeiten mussten definiert und zugeordnet werden. Hier sind wir dankbar, dass unsere Praxismitarbeiterinnen mit Freude, Entschlusskraft und Kompetenz an den Aufbau herangingen, sodass wir uns aktuell bereits mit dem Thema Qualitätsmanagement beschäftigen können. Wir konnten inzwischen über 1.600 Patientenkontakte verzeichnen und führen täglich im Schnitt 30 Konsultationen durch.
Unser Team besteht aus der ärztlichen Leiterin und Allgemeinmedizinerin Imola Kalló, dem Internisten und Kardiologen Frank Norrenbrock sowie fünf hervorragend qualifizierten Medizinischen Fachangestellten.
Eine neue ÖPNV-Haltestelle an der Buslinie 733 macht uns besonders stolz – sie sorgt dafür, dass auch Menschen ohne Auto bequem zu uns kommen können. Seit Juli nutzen wir zudem ein digitales Terminportal, um die Wartezeiten kurz zu halten. Die Auslastung liegt bereits bei 75 Prozent der angebotenen Slots.
Ab Januar 2026 stößt Kinderärztin Janine Tölle in Teilzeit dazu. Was bedeutet das für die Region?
Dostal: Die Pädiatrie ist für Familien im Kalletal bislang ein echtes Nadelöhr: Eltern mussten teilweise 30 Kilometer bis nach Lemgo oder Rinteln fahren. Mit Frau Tölle decken wir nun einen langjährigen Wunsch ab und schaffen eine kinderärztliche Versorgung vor Ort – zunächst an drei Vormittagen pro Woche. Perspektivisch wollen wir dieses Angebot noch ausweiten.
Und welche weiteren Pläne haben Sie für die Zukunft?
Dostal: Kurzfristig steht die Einführung eines Haus- und Heimbesuchs Dienstes an. Ein eigenes Leasingfahrzeug, das wir ab September erhalten, macht uns dabei flexibel. Mittelfristig möchten wir mit Telemedizin experimentieren, um chronisch kranke oder mobilitätseingeschränkte Patientinnen und Patienten noch besser zu erreichen. Auch ein Präventionsschwerpunkt – zum Beispiel mit Ernährungsberatung und Sportmedizin – ist in Vorbereitung. Langfristig sehe ich das MVZ als Musterzentrum für kommunale Gesundheitsversorgung, das Ausbildung, Forschung und Versorgung unter einem Dach vereint.
Was wünschen Sie sich von Politik und Partnern, um diese Ziele zu erreichen?
Dostal: Planungssicherheit. Kommunale MVZ arbeiten ohne den Gewinnfokus vieler privater Träger – das honoriert der Gesetzgeber bislang nicht ausreichend. Wir brauchen landesweit verlässliche Rahmenbedingungen, speziell bei der Vergütung präventiver Leistungen. Wenn das gelingt, können wir hier im Kalletal zeigen, wie leistungsfähig und bürgernah ein kommunales Gesundheitszentrum sein kann.
KOMMENTAR
Von Nicole Lödige
Es ist schon verwunderlich, dass es Menschen in Kalletal gibt, die gegen das MVZ Stimmung machen und damit die medizinische Versorgung der Bürger gefährden. Warum? Ist es Wahlkampf oder geht es um erhofften Profit? Dabei muss man doch die Situation nüchtern betrachten: Es war im Frühjahr 2023 und viele Kalletaler werden leidvoll daran zurückdenken: In der Gemeinde Kalletal verstirbt der in Hohenhausen niedergelassene langjährige Mediziner Dr. med. Michael Rossknecht mitten aus dem Leben. Eine Nachfolge wird nicht gefunden. Die Praxis schließt. Seine Patienten stehen von jetzt auf gleich ohne Arzt da und sehen sich der großen Herausforderung ausgesetzt, einen Ersatz zu finden. Viele von ihnen sind schier verzweifelt.
Gleichzeitig läuft der sogenannte Kommunale Entwicklungsbeirat zum Thema Gesundheitsversorgung in Kalletal, von der Verwaltung im Herbst 2022 auf den Weg gebracht, unterstützt von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, dem Gesundheitsamt des Kreises Lippe, Medizinern, Apothekern und vielen weiteren Experten aus dem Gesundheitswesen. Seine Empfehlung: Ein kommunales medizinisches Versorgungszentrum. Denn die orts- und zeitnahe hausärztliche Behandlung muss für alle Einwohner in Kalletal dauerhaft sichergestellt werden. Doch sie ist mehr als gefährdet, denn Kalletal gehört zum Mittelbereich Lemgo, der stark unterversorgt ist, zwischenzeitlich sind 14 Arztsitze vakant.
Bürgermeister Mario Hecker warnt vor einem größeren Ärztehaus am Klinikstandort in Lemgo, mit der Konsequenz, dass Kalletal als versorgt gelte, obwohl nicht ein weiterer Arzt dort niedergelassen sei. Die Kreispolitik zu Teilen empört. Die Diskussion um das Klinikum Lippe endlich öffentlich.
Doch Kalletal kämpft. Gut eineinhalb Jahre später wird eine Gesellschaft gegründet, ein MVZ eröffnet und in Betrieb genommen. Zwei Ärzte praktizieren dort, im Januar folgt sogar eine Kinderärztin – ohne das MVZ wäre dieses Angebot undenkbar. Und die Kassensitze sind im Eigentum der kommunalen Gesellschaft und damit an den Standort Kalletal festgebunden, ihm so schnell nicht mehr zu nehmen.
So geht Daseinsvorsorge mit kommunalem Weitblick für die Menschen vor Ort. Unterstützt von Menschen, die bereit waren, sich mit ihrem Engagement und dem demokratischen Instrument des Bürgerbegehrens für ihre lokale Gesundheitsversorgung einzusetzen. Und in Lemgo? Da sieht man Plakate mit der Aufschrift „Klinikum gerettet. Ärztezentrum geplant.“ Kalletal kann sich glücklich schätzen, die medizinische Versorgung vor Ort gesichert zu haben – entgegen aller Kritik.